Tasse Tee und spirituelles Lernen

Die Geschichte der “Tasse Tee”

Eine Anekdote über eine Tasse Tee aus dem Zen-Buddhismus veranschaulicht spirituelles Lernen. Oft wird gefragt, ob es denn möglich sei, Schamanismus und Magie zu erlernen oder ob dies nicht einfach angeboren ist. Viele in der Esoterik-Szene oder New-Age Bewegung versuchen, den Glauben an das scheinbar Angeborene sich zu nutzen zu machen, indem sie behaupten, dass ihre Fähigkeiten ihr Talent sei, weil sie diese schon mitgebracht haben und sich dabei auf Erinnerungen an frühere Leben berufen. Ob dem jemand glauben schenkt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Tatsache ist aber, dass Schamanismus und Magie von jedem erlernbar ist, der sich das wünscht und sich auf den Weg macht, einen passenden Meister zu finden. Von früher mitgebracht hat wohl jeder etwas, weil alle Menschen von den vorherigen Generationen abstammen…:)

Die Geschichte eines Zen-Meisters

Von dem Zen-Meister Nan-in heisst es, dass eines Tages ein neuer Schüler zu ihm kam. Während dieser dem Meister erzählte, was er schon alles kann und wie er das mit dem Zen sieht, bereitete der Meister Tee für beide zu. Beim Einschenken des Tees für den neuen Schüler überfüllte der Meister die Tasse und hörte nicht auf, immer mehr Tee hineinzugießen. Irgendwann merkte der neue Schüler das und machte den Meister darauf aufmerksam, dass die Tasse Tee schon voll sei und nicht mehr hineingeht. Der Meister erwiderte: “Auch deine Tasse Tee ist schon voll und läuft über. Wie also soll ich dir etwas lehren?”

Noch eine Tasse Tee?

Wenn man etwas lernt und der Meister etwas zeigt und man als Schüler denkt: “Das kann man aber auch so und so und so machen”, dann ist die Tasse Tee ziemlich voll. In diesem Fall findet kein Lernen statt, weil man mit den Gedanken immer gerade da ist, wo nicht die Aufmerksamkeit des Unterrichtsstoffes liegt. Man lernt aber auch nicht das, mit dem man sich gerade beschäftigt und macht sozusagen echte Rückschritte. Manch einer würde vielleicht sagen, dass man auf der Stelle tanzt, aber dem ist nicht so, wenn man derartig mit anderen Dingen beschäftigt ist, dass man sich umso mehr verwirrt.
Um zu lernen, ist es nützlich sich immer wieder vor Augen zu führen, dass es immer wieder auf den unterschiedlichen Niveaus etwas zu lernen gibt. Das bedeutet, dass es verschiedene Meister und volle Teetassen gibt. Die erste volle Tasse Tee ist quasi die, dass man glaubt, von Anfang an bereits alles zu wissen oder vielleicht sogar mehr zu wissen. Wenn dem so ist, und man mit diesem Wissen hausieren geht, so stellt sich die Frage, was man denn eigentlich bei einem Meister will. Zum einen geht man in eine Schule, um etwas zu lernen und zum anderen will man es allen zeigen, dass man es schon kann. Das erscheint widersprüchlich, ist aber eigentlich keine Seltenheit. Möglicherweise gibt es zwei innere Anteile, die einander widersprechen. Der eine Teil ist der, der wirklich lernen will und daher hat man auch seinen Weg zu einem Meister gefunden. Der anderen Teil will sich zum Beispiel profilieren. Dafür mag es viele Gründe geben. Einer könnte sein, dass der Schüler nicht bereit ist, nochmals von vorne zu beginnen, weil er glaubt, eigentlich schon fortgeschritten zu sein und so schnell wie möglich hochgraduiert werden will. Ein anderer Grund könnte sein, vom Meister gelobt werden zu wollen, um im eigenen Selbstwert bestärkt zu werden, weil man in der Kindheit etwa kaum Anerkennung erhalten hat und dem Meister gegenüber eine Vaterübertragung vorliegt. Der Haken ist nur der, dass dabei die eigentliche Möglichkeit des Lernens in den Hintergrund gestellt wird, man de facto wenig lernt und daher vom Meister kaum Lob einsammelt, womit der Teufelskreis weitergeht. Auf der anderen Seite kommt wahrer Selbstwert von innen heraus.
Lernen hat zudem etwas mit einer Wanderung im Kreis zu tun. Wenn man eine Sache ein wenig verinnerlicht hat, ist es nützlich, quasi wieder von vorne zu beginnen. Das  besteht darin, dass der Meister möglicherweise sieht, dass eine Sache begriffen wurde und daher ein neues Detail zeigt. Widmet man sich nun dem Neuen, kann es passieren, dass die bereits gelernten Dinge wieder ins Wanken geraten. Das ist im Prinzip auch gut so, weil das wie eine Erschütterung ist und so ein neues Lernen stattfinden kann, um das Fundament weiter zu sichern. Wäre das Fundament so fest, dass keine Flexibilität da ist, wäre es kaum möglich ein neues Detail zu integrieren. Man könnte höchstens etwas drüber kleistern, während die alten Fehler erhalten bleiben. Doch genau hier ist ebenso wieder eine Gefahr einer so genannten vollen Tasse Tee. Wenn der Schüler denn nun meint, dass er schon alles gelernt hat, und nicht sieht, dass man noch tiefer in die Materie einsteigen kann, wird er nicht für weitere Details offen sein.
Die dritte Tasse Tee, die übervoll ist, zeigt sich möglicherweise darin, dass der Schüler den Meister zeigen will, dass er es schon kann. Nimmt man das Beispiel der Kampfkunst, dann kommt es dem Schüler mehr darauf an, dass Endergebnis zu zeigen, dass zum Beispiel der Partner beziehungsweise Gegner auf dem Boden liegt. Jemanden zu Boden zu bringen ist jedoch nicht so schwer. Viel schwerer ist es jedoch, den Weg dahin zu bahnen. Das bedeutet, dass das Endergebnis erst einmal nicht so wichtig ist, wie der Weg dahin.
Somit gleicht eine Tasse Tee, die übervoll ist eher einem schönen Schein. Der schöne Schein kann ein Zertifikat oder eine Urkunde sein, die man sich irgendwo hin hängen kann. Ab und an ist es zu beobachten, dass wenn jemand seine Urkunde überreicht bekommen hat, danach nicht mehr lernt oder trainiert. Dieses Phänomen hängt möglicherweise mit dem deutschen Schulsystem zusammen. Dort lernt man für Prüfungen zu lernen. Der schöne Schein, der sowohl in Papierform erscheinen kann als auch als Licht des Egos, wird bei denen, deren Tasse Tee sehr voll ist, eher zum Vorschein hingehalten, als dass es sich wirklich nachhaltig um Qualität handelt. Denn jeder, wer aufhört zu trainieren, wenn er seinen Schein erhält, wird zunehmend schlechter.
Damit kommen wir zur fünften Tasse Tee. Dabei wurde nicht begriffen, dass das Erlangen einer Stufe das Betreten eines Plateaus ist. Ansonsten wird man ewig auf der Treppe oder Leiter bleiben und nicht die nächste Ebene besteigen. In der nächsten Ebene ist man auf einem anderen Niveau quasi wieder Anfänger und kann dort von neuen lernen und die Dinge nutzen, die man schon gelernt hat. Verhält es sich jetzt aber so, dass man die Dinge, die man auf der vorherigen Ebene oder der Treppe hätte lernen sollen, nicht richtig austrainiert hat, kann man das nächste Niveau kaum schätzen, nutzen oder auch begreifen. Eigentlich ist es dann besser wieder ganz von vorne anzufangen. Haben sich allerdings dann schon einige Fehler eingeschlichen und verfestigt und ist das Ego dazu noch sehr stark, wird man das nicht tun wollen und hat oft weder den Willen noch den Wunsch zur Besserung. Meistens kommt dann irgendwann dazu, dass man von anderen, die viel später als man selbst den Weg begonnen haben, eingeholt wird, was zu Neid und ähnlichen unguten Gefühlen und Handlungsenergien führen kann. Im schlimmsten Fall ist man dann geneigt, es den anderen schwer zu machen. Im weniger schlimmen Fall ist man dazu geneigt, keine Lust mehr zu haben und aufzugeben.

Lernen mit Vorkenntnissen

Das oben gesagte, soll nicht heissen, dass Vorkenntnisse als negativ zu verallgemeinern sind. Ich denke nicht, dass es die Vorkenntnisse sind, die einen Schüler daran hindern voranzukommen. Ich denke eher, dass es die Einstellung des Schülers selbst ist. Will der Schüler wirklich von Herzen lernen, wird er einen Weg finden, seine Tasse Tee zu lehren. Wenn es dem Schüler gelingt, trotz der Vorkenntnisse zu sich zu sagen, “hier wo ich jetzt zum Lernen hingehe, bin ich Schüler und ich vergleiche nicht alles sondern schaue mir immer wieder alles so an, als würde ich es das erste Mal lernen” und wenn er die Inhalte mit den Augen eines Anfängers (Zen-Geist) betrachtet und alles genauso probiert nachzumachen, dann kann er sicherlich genauso schnell oder vielleicht sogar schneller lernen wie ein echter Anfänger.
Auf der anderen Seite täte es auch jemanden gut, seine Tasse Tee zu lehren, der keine Vorkenntnisse hat, weil es nicht nur die Vorkenntnisse sind, die am Lernen hindern können, sondern ebenso die lieb gewonnenen Gewohnheiten und Prägungen. Meiner Beobachtung nach gibt es da soviel Unbewusstes, dass es reichlich Offenheit und Vertrauen dem Meister gegenüber bedarf, sich von diesem, diese Muster zeigen zu lassen. Doch zu oft fällt gerade das schwer, weil die Muster einen schon so lange so erfolgreich begleitet haben und eventuell sogar beschützt haben.

Die Tasse Tee des Meisters

Ist der Meister jedoch ein solcher, der seine eigene Tasse Tee nie leeren gelernt hat und hat dieser ein Riesen-Ego, welches er mit schönen Scheinen demonstriert, indem er einen zu hohen Stellenwert auf Urkunden legt und sich ständig mit anderen vergleicht und diese sogar erniedrigt, während sie nicht da sind und daher auch keine Stellung beziehen können, dann bleibt zu hoffen, dass der vom Herzen willige Schüler dies irgendwann merkt…In so einem Fall ist der Meister dann auf seinem Weg vielleicht nicht leer aber eher hohl und beratungsresistent gewesen und ist in seinem Inneren und gespiegelt in der Außenwelt in einem ewigen Machtkampf verstrickt.

Lehre Tasse Tee ist kein blinder Glaube

Wozu ein Schüler nicht gewillt sein sollte, ist, alles ohne nachzudenken, blindlings zu glauben. Glauben bedeutet “nicht wissen”. Wissen bedeutet Erfahrung. Eigene Erfahrungen mit dem zu machen, was ein Meister lehrt, indem man es ausprobiert, scheint gesund. Erwartet ein Meister jedoch, dass man einfach alles Glauben soll und dass das es die Bedeutung sei, seinen Tasse Tee zu leeren, kann kann man gleich drauf verzichten.